GdB-Tabelle nach der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV)
Schwerbehinderung und Schwerbehindertenausweis
Sächsisches Landessozialgericht 9. Senat
L 9 SB 6/15
30.01.2018
Juris
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises.
Der 1977 geborene Kläger beantragte am 04. März 1991 beim seinerzeit zuständigen Versorgungsamt die Feststellung von Behinderungen.
Mit Bescheid vom 10. Dezember 1998 (Bl. 65 d. VwA.) wurden ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen der Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht festgestellt. Mit Bescheid vom 08. März 2002 (Bl. 78 d. VwA.) wurde neben der Hörbehinderung mit Sprachbehinderung eine neu hinzugekommene operativ behandelte Erkrankung des rechten Hodens festgestellt. Zudem wurde festgestellt, dass die Voraussetzungen der Gehörlosigkeit vorliegen.
Den Angaben des Klägers im Schreiben vom 01. Januar 2014 (Bl. 106 d. A.) zufolge war ein unbefristeter Schwerbehindertenausweis ausgestellt worden. Mit diesem Schreiben beantragte der Kläger die Ausstellung eines neuen Schwerbehindertenausweises (entsprechend Muster 5 zu § 9 der Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) i. d. F. des Gesetzes vom 07. Juni 2012, BGBl. I 2012, S. 1275). Dieser Ausweis wurde auf fünf Jahre befristet ausgestellt. Der gegen die Befristung gerichtete Widerspruch des Klägers wurde durch bestandskräftigen Widerspruchsbescheid vom 14. Januar 2015 (Bl. 114 d. VwA.) zurückgewiesen.
Mit Schreiben vom 03. März 2019 beantragte der Kläger die Ausstellung eines neuen unbefristeten Ausweises. Gegen die neuerliche Befristung erhob der Kläger mit Schreiben vom 27. März 2019 „Einspruch“ (Bl. 118 d. VwA.). Dieser wurde durch Widerspruchsbescheid vom 15. Juli 2019 (Bl. 122 d. VwA.) als unzulässig zurückgewiesen.
Gegen die Bescheide erhob der Kläger am 05. August 2019 Klage zum Sozialgericht. Das Sozialgericht hat die auf Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises und Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 15. Juli 2019 gerichtete Klage durch Gerichtsbescheid vom 10. Oktober 2019 abgewiesen.
Gegen den am 30. Oktober 2019 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die Berufung des Klägers, die am 12. November 2019 beim Landessozialgericht eingegangen ist und mit der der Kläger sein Begehren weiterverfolgt.
Er macht geltend, eine Verbesserung seines Gesundheitszustandes sei nicht zu erwarten bzw. ausgeschlossen. Die Befristung des Ausweises bedeute für ihn einen erheblichen Mehraufwand, der sich nicht nur in der Übersendung eines neuen Passbildes an den Beklagten erschöpfe, vielmehr entstünde ein Mehraufwand im Rahmen seines Beschäftigungsverhältnisses und im Hinblick auf das Finanzamt. Bei der Regelung seiner Angelegenheiten sei er auf die Hilfe seiner Eltern angewiesen.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gotha vom 10. Oktober 2019 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, ihm einen unbefristeten Schwerbehindertenausweis auszustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger sei bereits mit Schreiben vom 04. April 2019 darauf hingewiesen worden, dass er lediglich der Versorgungsverwaltung ein neues Passbild übersenden müsse, ohne dass es einer erneuten Antragstellung bedürfe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten verwiesen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der geheimen Beratung.
Der Senat konnte gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, weil die Beteiligten ihr Einverständnis damit erklärt haben.
Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 25. November 2014 war aufzuheben. Der Bescheid des Beklagten vom 25.07.2012 in Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 02.10.2012 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Voraussetzungen des Merkzeichens B liegen nicht vor.
Nach § 152 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) stellen auf Antrag des behinderten Menschen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. Nach § 152 Abs. 4 SGB IX treffen die zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen im Verfahren nach Abs. 1, wenn neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind. Bis 31.12.2017 war dies entsprechend in § 69 Abs. 1 bzw. Abs. 4 SGB IX geregelt, zum 01.01.2018 trat die Neufassung des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch in Kraft (Gesetz zur Stärkung der Teilhabe in Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen – Bundesteilhabegesetz (BTHG) vom 23.12.2016, BGBl. I S. 3234).
Nach § 229 Abs. 2 SGB IX (inhaltsgleich bis 31.12.2017, § 146 Abs. 2 SGB IX) sind zur Mitnahme einer Begleitperson schwerbehinderte Menschen berechtigt, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf Hilfe angewiesen sind. Die Feststellung bedeutet nicht, dass die schwerbehinderte Person, wenn sie nicht in Begleitung ist, eine Gefahr für sich oder andere darstellt. Nach Teil D Nr. 2a der Anlage zur VersMedV (Berechtigung für eine ständige Begleitung, Merkzeichen B) ist für die unentgeltliche Beförderung einer Begleitperson nach dem SGB IX die Berechtigung für eine ständige Begleitung zu beurteilen. Auch bei Säuglingen und Kleinkindern ist die gutachtliche Beurteilung der Berechtigung für eine ständige Begleitung erforderlich. Für die Beurteilung sind dieselben Kriterien wie bei Erwachsenen mit gleichen Gesundheitsstörungen maßgebend. Es ist nicht zu prüfen, ob tatsächlich diesbezügliche behinderungsbedingte Nachteile vorliegen oder behinderungsbedingte Mehraufwendungen entstehen. Eine Berechtigung für eine ständige Begleitperson ist bei schwerbehinderten Menschen (bei denen die Voraussetzungen für die Merkzeichen G, GL oder H vorliegen) gegeben, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind. Dementsprechend ist zu beachten, ob sie bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt des Verkehrsmittels angewiesen sind oder Hilfen zum Ausgleich von Orientierungsstörungen (z. B. bei Sehbehinderung, geistiger Behinderung) erforderlich sind. Die Berechtigung für eine ständige Begleitung ist anzunehmen bei Querschnittsgelähmten, Ohnhändern, Blinden und Sehbehinderten, Hörbehinderten, geistig behinderten Menschen und Anfallskranken, bei denen die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr gerechtfertigt ist. Für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs B bei einem behinderten Kleinkind vorliegen, sind dieselben Kriterien wie bei einem Erwachsenen anzunehmen (bestätigt durch Bundessozialgericht, Urteil vom 12. Februar 1997 – 9 RVs 1/95, Knittel, SGB IX Kommentar 10. Aufl., § 69 SGB IX Rdnr. 190).
Bisher ist es nicht zu signifikanten Hypoglykämien (Unterzuckerungen), insbesondere nicht von solchen, die fremdhilfebedürftig waren und/oder mit Krampfanfällen einhergegangen sind bei der Klägerin gekommen. Trotz Insulinpumpentherapie ist der Zuckerstoffwechsel dennoch extrem instabil geblieben. Die Einstellung der Stoffwechsellage ist nicht zufriedenstellend. Trotz Insulinpumpe und kontinuierlicher Glukosemessung sind die Glukosewerte nicht annähernd stabil. Das Kind ist nicht zuverlässig in der Lage, den Stoffwechsel während der Schulzeit alleine zu führen, auch nicht mit allen verordneten Hilfsmitteln. Dies steht zur Überzeugung des Senats anhand der Ausführungen des Gutachters Prof. Dr. W. in seinem Gutachten vom 16.09.2014 sowie anhand der Befundberichte von Dr. E. fest.
Allerdings kommt es nicht auf die altersbedingt eingeschränkte Fähigkeit des Kindes an, Stoffwechselentgleisungen zu erkennen und zu behandeln; die Voraussetzungen des Merkzeichens B sind unabhängig vom Alter zu bewerten. Nach Teil D 2a Satz 3 der Anlage zur VersMedV sind für die Beurteilung dieselben Kriterien wie bei Erwachsenen mit gleichen Gesundheitsstörungen maßgebend. D. h., es ist darauf abzustellen, ob ein Erwachsener mit den bei der Klägerin vorhandenen Stoffwechselschwankungen in der Lage wäre, diese rechtzeitig zu erkennen und (selbst) Maßnahmen zur Stabilisierung zu ergreifen. Diese Frage hat Dr. E. eindeutig dahingehend beantwortet, dass etwa ab dem Alter von 12 Jahren ein Kind in der Lage sein sollte, die Diabetesführung während der Schulzeit alleine zu übernehmen. Jüngere Kinder mit einem stabilen Stoffwechsel sind evtl. früher in der Lage, dies zu tun. Ein Erwachsener mit ähnlichen Stoffwechselschwankungen wie die Klägerin unter adäquaten Hilfsmitteln kann sich selber versorgen. Durch Warnsysteme der kontinuierlichen Glukosemessung kann ein erwachsener Patient, auch wenn er selbst eine fehlende Hypoglykämiewahrnehmung hat, auf niedrige Werte zeitnah reagieren. Deshalb liegen die Voraussetzungen für das Merkzeichen B bei der Klägerin nicht vor, weil ein Erwachsener mit entsprechenden Einschränkungen keinen Anspruch auf das Merkzeichen hätte. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass es den die Klägerin im normalen Tagesablauf regelmäßig beobachtenden und begleitenden Personen regelmäßig möglich ist, Stoffwechselentgleisungen durch kontinuierliche Glukosemessung und Therapie zu vermeiden. Legt man diesen Maßstab an, besteht bei einem Kind nicht die konkrete Gefahr des jederzeitigen Eintritts von Stoffwechselentgleisungen und damit auch kein erhöhtes Unfallrisiko bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Wirkt sich das alterstypische Unvermögen eines behinderten Kindes, mit der Krankheit umzugehen, auf die Lebensgestaltung aus, begründet dies nicht einen behinderungsbedingten und damit ausgleichspflichtigen Nachteil (Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28.05.1998 – L 7 SB 140/97).
Die Voraussetzungen von Teil D Nr. 2b der Anlage zur VersMedV (bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt des Verkehrsmittels angewiesen oder es sind Hilfen zum Ausgleich von Orientierungsstörungen (z. B. bei Sehbehinderung, geistiger Behinderung) erforderlich) liegen ersichtlich nicht vor.
Auch die Voraussetzungen von Teil D Nr. 2c der Anlage zur VersMedV (Anfallskranke, bei denen die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr gerechtfertigt ist) liegen nicht vor. Häufige hypoglykämische Schocks, die einen GdB von wenigstens 70 bedingen würden, liegen nicht vor. Bei der Klägerin ist zutreffend ein GdB von 50 festgestellt worden.
Ein Widerspruch zur Zuerkennung des Merkzeichens H für die Klägerin ist darin nicht zu sehen. Im Falle der Klägerin resultiert die Zuerkennung des Merkzeichens H aus der Erkrankung Diabetes mellitus, die im Alter bis zu 16 Jahren den generellen, latent vorhandenen Hilfebedarf der Klägerin Rechnung trägt. Insoweit geht die VersMedV in Teil A Nr. 5 von einer generalisierenden Betrachtungsweise aus. Hinsichtlich weiterer Merkzeichen, wie hier des streitigen Merkzeichens B, kommt es jedoch auf einen konkreten, regelmäßigen Hilfebedarf bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel an, welcher nach den medizinischen Unterlagen nicht vorliegt.
Soweit der Sachverständige die Vergabe des Merkzeichens B befürwortet hat, ist er nicht von rechtlich normierten Vorgaben, sondern von medizinisch Wünschenswertem ausgegangen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.